Die Tafelrunde: Vorsicht Ecken und Kanten!

(ein schon etwas älterer, aber immer aktueller Beitrag aus 2014)

 Im Internet stieß ich auf folgenden Bericht:

„Bei einem Besuch der Münchner Tafel e.V. stellte [die frühere] Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner … einen neuen Ratgeber vor, der sowohl Spendern als auch Empfängern von Lebensmittelüberschüssen die geltende Rechtslage erläutert und damit die Weitergabe von Lebensmitteln vereinfacht. Aigner warb dafür, überschüssige Produkte noch öfter als bisher an bedürftige Menschen weiterzugeben: ‚Lebensmittel sind kostbar. Produkte, die noch einwandfrei genießbar sind, gehören nicht in die Mülltonne. Sie sollten an soziale Einrichtungen wie die Tafeln oder vergleichbare Initiativen der Sozialverbände abgegeben werden.

Die Tafeln in Deutschland geben jede Woche zehntausende Tonnen genießbare Lebensmittel an Bedürftige ab; allein die 24 Ausgabestellen in München verteilen jede Woche insgesamt 100 Tonnen Lebensmittel. ‚Das ist ein enormer Beitrag zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen, der durchaus noch gesteigert werden könnte’, erklärte Aigner. Sie bedauerte, dass es immer noch Informationsdefizite und Vorbehalte gegenüber Lebensmittelspenden gebe. ‚Mit unserem neuen Ratgeber wollen wir allen Akteuren, die Lebensmittel spenden oder empfangen, einen Überblick über die wichtigsten rechtlichen Fragestellungen geben und so die Weitergabe einfacher machen’, betonte Aigner … in München. …

Aigner lobte das vorbildliche Engagement der Tafeln: ‚Die Tafeln leisten einen wichtigen Beitrag für Bedürftige. … Was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier ehrenamtlich leisten, verdient hohe Anerkennung und Respekt’, sagte Aigner. …

Insgesamt gibt es in Deutschland fast 900 Tafeln mit zusammen mehr als 3000 Ausgabestellen. Über 50.000 hauptsächlich ehrenamtliche Helferinnen und Helfer engagieren sich bundesweit bei den Tafeln und reichen jede Woche zehntausende Tonnen genießbare Lebensmitteln weiter. …“ (Website Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung)

Alles gut? Nur auf den ersten Blick. Dabei stören mich weniger der Wahlkampf-Rummel und die zwanghaft lächelnden Politiker. Denn im Wahlkampf besteht von jeher ein symbiotisches Verhältnis zwischen karitativen Organisationen und der Politik. Und im Ergebnis ist es durchaus richtig, die Weitergabe von Lebensmitteln an die Tafeln zu erleichtern. Es kann nicht sein, dass Menschen hungern oder sich keine hochwertige Nahrung leisten können, während gute Lebensmittel in der Mülltonne verderben. Warum also trotzdem dieses Spiel verderben?

Ich muss gestehen, dass mir das gesamte Tafelwesen nicht gefällt. Obwohl sich bei den Tafeln viele Ehrenamtliche engagieren und Gutes tun. Aber dies ist nicht der Kritikpunkt. Ich habe auch nichts gegen die einzelne Tafel. Wenn ich von „Tafelwesen“ spreche, meine ich den den institutionellen Charakter, den die kostenlose Abgabe von Lebensmitteln an Bedürftige in unserem Land mittlerweile erhalten hat. Laut dem Bundesverband Deutsche Tafel e.V. (den es bezeichnenderweise natürlich auch gibt) werden in

„… Deutschland täglich viele Tonnen Lebensmittel vernichtet, obwohl sie noch verzehrfähig sind. Gleichzeitig gibt es auch hierzulande Millionen Menschen, die nicht ausreichend zu essen haben.
Die Tafeln schaffen eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel: Sie sammeln qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, und verteilen diese an sozial und wirtschaftlich Benachteiligte – kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag.

Derzeit gibt es mehr als 900 Tafeln in Deutschland. Alle sind gemeinnützige Organisationen. Bundesweit unterstützen sie regelmäßig über 1,5 Millionen bedürftige Personen mit Lebensmitteln – knapp ein Drittel davon Kinder und Jugendliche.

Bedürftig sind für die Tafeln alle Menschen, die nur über wenig Geld im Monat verfügen können, z.B. weil sie eine kleine Rente haben, Arbeitslosengeld I oder II, Sozialhilfe oder Grundsicherung beziehen. Damit die Hilfe auch da ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird, lassen sich die Tafeln die Bedürftigkeit ihrer Kunden durch offizielle Dokumente nachweisen. Grundsätzlich gilt jedoch: Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen. …

Zusätzlich engagieren sich rund 50.000 Menschen in Deutschland ehrenamtlich und spenden ihre Freizeit und ihr Know-how: als Helfer vor Ort, Fahrer, Berater oder Dienstleister. … Damit gelten die deutschen Tafeln als eine der größten sozialen Bewegungen unserer Zeit.“

Lassen wir mal die Zahlen auf uns wirken und rechnen ein wenig: Es dürfte also in rund 40% der deutschen Städte (insgesamt 2060) jeweils eine Tafel mit durchschnittlich über 1600 „Kunden“ (ein Drittel Kinder und Jugendliche) und 55 ehrenamtlichen Aktiven geben. Schon diese Entwicklung macht die Tafeln zur Institution. Sie sind, wie der Bundesverband Deutsche Tafel stolz schreibt, zu einer der größten sozialen Bewegungen unserer Zeit geworden. Das ist aber noch nicht alles.

Nicht etwa eine Propagandasendung des nordkoreanischen Fernsehen über das Leben im Kapitalismus, sondern die Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft berichtet trocken über die Abgabe von zehntausenden Tonnen Lebensmittel jede Woche (!) an Bedürftige. Und auch dabei belegt der Freistaat Bayern selbstverständlich keinen hinteren Tabellenplatz: 24 Ausgabestellen in München verteilen 100 Tonnen pro Woche mit steigender Tendenz! Hurra!

Und das alles in einem der höchstentwickelten Sozialstaaten des Planeten! Das halte ich für einen Skandal! Dafür können die Tafeln nichts. Schuld ist unser Sozialstaat, der sich aus seiner Verantwortung verabschiedet und zulässt, dass ein wesentlicher Teil der ihm obliegenden Daseinsvorsorge privatisiert wird.

Sozialstaat? An dieser Stelle lohnt sich ein Blick ins Grundgesetz (GG). Dort ist – Neoliberale aufgepasst! – das Sozialstaatsprinzip festgeschrieben:

Unser Staatswesen ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Artikel 20 GG). Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen (Art 28 GG).

Also ist dieser Staat nicht nur freiheitlich, sondern auch sozial, soll es zumindest sein. Heißt in der Auslegung der meisten Verfassungsjuristen sowie des Bundesverfassungsgerichts:

Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung sind dazu verpflichtet, soziale Gerechtigkeit anzustreben, nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln sowie die Rechtsordnung dementsprechend zu gestalten.

Ziel des Sozialstaates sei – so das Bundesverfassungsgericht – der Abbau erheblicher sozialer Unterschiede und die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards für alle Teile der Bevölkerung. Ausgefüllt werde das Sozialstaatsprinzip durch die Fürsorge für Hilfsbedürftige, die Schaffung sozialer Sicherungssysteme, die Herstellung von Chancengleichheit und einer gerechten, für Ausgleich der sozialen Gegensätze sorgenden Sozialordnung.

Eng verbunden mit dem Sozialstaatsprinzip ist auch Artikel 1 GG, der – keinen Widerspruch duldend – die unabänderliche Grundlage unseres Gemeinwesens vermittelt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Die kühle juristische Strenge dieser Sätze hat mir schon immer imponiert. Doch zurück in die Realität: Weitgehend einig sind sich die Juristen darüber, dass weder Sozialstaatsprinzip noch Unantastbarkeit der Menschenwürde dem einzelnen Bürger einen Anspruch darauf geben, bestimmte Maßnahmen des Staates oder gar konkrete gesetzliche Vorschriften zu fordern. Es liegt im Ermessen des Staates bzw. des Gesetzgebers, wie er das Sozialstaatsprinzip verwirklicht und die Menschenwürde schützt. Hier gibt es einen weiten Rahmen, in dem Bund, Länder und Kommunen handeln können. Dabei dürfen durchaus auch politische Überlegungen und Ziele eine Rolle spielen.

Unbestreitbar ist aber auch, dass die politisch Verantwortlichen eine besondere Verantwortung im Bereich der grundlegenden Daseinsvorsorge tragen, also buchstäblich bei Essen, Trinken und „Dach über dem Kopf“. Wenn schon hier keine soziale Gerechtigkeit herrscht, wie soll dann ein menschenwürdiges Leben „für alle Teile der Bevölkerung“ überhaupt verwirklicht werden können? Darauf zielt es auch ab, wenn von der Sicherung eines angemessenen Lebensstandards sowie der Fürsorge für Hilfsbedürftige die Rede ist. Hier ist die Politik in besonderer Weise gefordert, konkrete Hilfe zu gewähren.

Macht sie das denn nicht? Haben wir nicht ein weit verzweigtes soziales Sicherungssystem? Was ist mit Sozialhilfe, Hartz IV etc.? Nun, der eine sagt so, der andere so. Aber klar ist doch eines: Dies alles reicht offenkundig nicht aus, wie man an der Entwicklung des Tafelwesens sieht, das z.B. von Politikern und der zitierten Anstalt in den höchsten Tönen gelobt wird.

Müssten sich bei diesem Befund denn nicht Bundesrepublik, Land oder Kommune (je nach Zuständigkeit) darum kümmern, dass Bedürftige in die Lage versetzt werden, auch ohne Tafeln ausreichend hochwertige Nahrungsmittel zu erwerben? Also daran arbeiten, die Tafeln letztlich überflüssig zu machen?

Ja, genau das müssten sie!

Über den Weg dahin wie über die (natürlich problematische) Finanzierung mag man streiten. Keine Alternative ist es jedoch, den Tafeln die Aufgabe auf Dauer zu überlassen und sich auf Lobreden für die Ehrenamtlichen zu beschränken. Das ist Missbrauch des Ehrenamts, weil die Politik es zulässt, dass Ehrenamtliche hier eine Pflichtaufgabe der ureigenen öffentlichen Daseinsvorsorge übernehmen.

Die Aufgabe, die Tafeln überflüssig zu machen, darf der Staat sich nicht nehmen lassen. Ich muss genauer formulieren: Politiker, die in unserem sozialen Rechtsstaat Verantwortung tragen und das Sozialstaatsprinzip ernst nehmen, dürfen sich diese Aufgabe nicht nehmen lassen, sondern haben für einen „angemessenen Lebensstandard für alle Teile der Bevölkerung“ zu sorgen. Auch aus Gründen der Gleichbehandlung. Lässt man nämlich den heutigen Wildwuchs weiter wuchern, ist es von mancherlei Zufällen abhängig, wo sich hinreichend Freiwillige, Spender und Sponsoren für den Betrieb einer Tafel finden. Oder wie darf man es bewerten, dass in vielen Städten keine Tafel existiert? Gibt es dort etwa kein Bedürfnis? Oder lediglich keine Freiwilligen oder Spender?

Missbrauch des Ehrenamts, obwohl doch zahlreiche Freiwillige und Spender mit Herzblut für die Tafeln tätig sind? Trotz der schicken Broschüre, die den Ehrenamtlichen ihre Aufgabe erleichtern soll? So argumentiere ich nicht, denn das wäre die falsche Sichtweise. Es geht nicht darum, ob die Tafeln funktionieren, Menschen eine sinnvolle gemeinnützige Tätigkeit finden oder eine Ministerin lernt, dass nicht nur Bakterien und Schimmelpilze, sondern auch Rechtsvorschriften den Verderb von Lebensmitteln befördern.

Thema ist vielmehr einzig und allein das Versagen des Sozialstaats an entscheidender Stelle! Fragt sich nur, welche Politiker oder andere Player den Sozialstaat hier bewusst gegen die Wand fahren … solange, bis wir uns alle daran gewöhnt haben.

 

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