Im Zweifel für die Freiheit ?

Es lohnt sich gerade in diesen Tagen einen Blick auf die Abschiedsrede von Willy Brandt als SPD-Vorsitzender am 14.06.1987 zu werfen. Der folgende Auszug befasst sich mit der „Freiheit“:

„…

Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht. …

Wir sind nicht auf reglementiertes „Glück“ aus, sondern wir wollen die Freisetzung der schöpferischen Fähigkeiten, die im Menschen angelegt sind. Die Bewegungsfreiheit des Einzelnen – in sozialer Verantwortung.

Seit mehr als hundert Jahren ist der Zusammenhang zwischen Stärke der Sozialdemokratie und erfahrbarer staatsbürgerlicher Freiheit bei uns sichtbar. …

Wir tun gut daran, gegenüber allen Tendenzen wachsam zu bleiben, die die individuelle Freiheit unnötig einengen. Wie man sich hüten muss, durch angebliche Notwendigkeiten staatlicher Sicherheit nicht auf Abwege gelotst zu werden, habe ich seinerzeit am Beispiel des sogenannten Radikalenerlasses schmerzlich erfahren. … Ich trete dafür ein, dass der freiheitliche Gedanke im demokratischen Sozialismus stark bleibt und noch stärker wird. Das heißt unter anderem: … wir dürfen dem Aberglauben an die stets heilsame Wirkung obrigkeitlicher Maßnahmen nicht nachgeben. …

Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit!“

Dass diese Worte zum Vermächtnis Willy Brandts gehören, ist in der Führungsetage der SPD anscheinend nicht mehr bekannt, wie man leider beim Thema „Vorratsdatenspeicherung“ (VDS) feststellen musste.

Hierbei blieb die Freiheit, von der Brandt spricht, im Wege einer „neuen innerparteilichen Demokratie“ auf der Strecke:

Der Parteivorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, verkündete öffentlich seine Auffassung – die von der CDU/CSU gewünschte VDS sei jetzt doch notwendig – und zwang zunächst den Justizminister, Heiko Maas, auf seine Linie. Dieser legte gehorsam und ohne Rücksicht auf seine früher vertretene Auffassung einen Gesetzentwurf vor.

Maas hatte am 15.12.2014 getwittert:

 #VDS lehne ich entschieden ab – verstößt gg Recht auf Privatheit u Datenschutz. Kein deutsches Gesetz u keine EU-RL!

Trotz erheblicher Proteste an der SPD-Basis stimmte der Parteikonvent (ein „kleiner“ Parteitag mit 250 gewählten Delegierten) schließlich am 20.06.2015 mit 124 zu 88 Stimmen für den Gesetzentwurf,  nachdem SPD-Chef Gabriel die Delegierten vor einem ernsthaften Koalitionskrach mit Union gewarnt hatte.

Fazit: Die „Gabriel-SPD“ und damit zumindest diejenige SPD, die von ihren Bundesvorstandsmitgliedern, Bundesministern und Bundestagsabgeordneten repräsentiert wird, steht nicht mehr für die bürgerlichen Freiheitsrechte. Im Zweifel ordnet sie diese der angeblichen Notwendigkeit staatlicher Sicherheit unter. Hierbei macht es manchem auch nichts aus, auf seiner eigenen Meinung von gestern herumzutrampeln und sich zum Deppen zu machen. 

Mag die VDS zweckmäßig und geeignet sein oder nicht, das Land braucht sie, weil die Union sie für ihre Wähler braucht und Gabriel ein braver Juniorpartner in der Bundesregierung sein will. Auch Fraktionschef Oppermann hat Besseres zu tun als die Kränkung der Freiheit zu verhindern, nachdem er schon zu Anfang der Legislaturperiode in der Edathy-Affäre, freundlich gesagt, etwas unglücklich agierte und – durchaus berechtigt – den Zorn der CDU/CSU auf sich zog.

Letztlich kommt es auf Argumente nicht mehr an. Der Vorsitzende warnt vor Koalitionskrach und schon duckt sich die Partei.

Wo führt das hin?

Der Zusammenhang zwischen erfahrbarer staatsbürgerlicher Freiheit und Stärke der Sozialdemokratie, von dem Willy Brandt spricht,  lässt sich auch im Umkehrschluss nachweisen: Wenn diese Freiheit nicht erfahrbar ist, führt dies zur Schwächung der SPD.

Die harsche Kritik, die die Haltung der SPD aktuell in den sozialen Netzwerken erfährt, lässt darauf schließen, dass die Wählerwanderung weg von der Sozialdemokratie anhält oder sich sogar noch verstärkt. Wo das hinführt, ist nicht auszudenken.

Zudem ist damit zu rechnen, dass sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes etliche Klagen beim Bundesverfassungsgericht gegen die VDS eingereicht werden. Dabei werden sich andere Parteien auf Kosten der SPD als Verteidiger der staatsbürgerlichen Freiheit profilieren. Wenn dann das Bundesverfassungsgericht – worauf man aus sehr guten Gründen hoffen darf – die VDS erneut als verfassungswidrig ansieht, ist für die SPD die Katastrophe perfekt!

 Nachtrag

Mittlerweile haben Bundestag und Bundesrat das Gesetz über die VDS (oder wie es richtig heißt: Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist) mit Stimmen von CDU/CSU und SPD durchgewunken. Verfassungsbeschwerden sind angekündigt. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat den Bundespräsidenten aufgefordert, dieses verfassungswidrige Gesetz nicht zu unterzeichnen. Also bleibt zu hoffen, dass letztlich wieder einmal das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebung von Bundestag und Bundesrat korrigiert.